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Pandemien und Schuluntericht zu meiner Zeit

  • Autorenbild: Heiko Tornow
    Heiko Tornow
  • 6. März 2021
  • 4 Min. Lesezeit

Die Tageblatt-Redaktion hatte ja an an meine Kolumne die Erwartung geknüpft, dass sie die Corona-Pandemie aus der Sicht eines Angehörigen der älteren Generation beschreibt. Dem will ich mich gerne stellen. Was also sieht ein, nun ja, überlebender Senior im zweiten Covidwinter anders als die anderen?

Da wäre vor allem die Verwunderung darüber, dass heutzutage sogar die Jungen und Mädchen sich angeblich nichts lieber wünschen als dass die Schulen endlich wieder geöffnet werden. Wenn die Eltern neben dem Homeoffice keine Lust mehr auf Homeschooling haben, ist das unbedingt nachzuvollziehen. Aber die Kinder? Zu meiner Zeit, also in den goldenen 50er Jahren, waren Ferien und sonstige unterrichtsfreie Zeiten das weitaus Beste an der Schule. Und diese Frei-Zeiten waren uns immer viel zu kurz. Mein Bruder und ich haben daher jede Gelegenheit herbeigemogelt, um die Schule schwänzen zu können. Ein gefühltes halbes Jahr Regelunterricht habe ich gewiss versäumt, weil meine Mutter uns natürlich nicht mit hohem Fieber ( das Thermometer war heiss gerieben) oder schlimmen Bauch- oder Kopfschmerzen (was haben wir mit überzeugender Leidensmiene hinreißende Darbietungen als eingebildete Kranke abgeliefert!) auf den langen Schulweg ohne Schulbus schicken mochte.


Und jetzt das: Experten haben ausgerechnet, dass durch den Schul-Lockdown jeder davon betroffene Schüler einen durchschnittlichen jährlichen Erwerbseinkommensverlust von 100 bis 200 Euro pro Monat erleidet. Und zwar in seinem ganzen hoffentlich langen Leben.

Ich nehme mal diese Zahlen wie sie uns mitgeteilt sind und kümmere mich nicht kleinlich um Inflation und Währungswechsel oder vielfach geänderte Rentenformel: d meine selbstverschuldeten sechs Monate ohne ordentlichen Unterricht haben mich danach um- und bummelig 120 000 Euro gekostet. Den Rechenexperten glaube ich sofort. Fast genau so viel fehlt gerade auf meinem Konto.

Meine Life-Schule-Geld-Balance müsste allerdings noch ein wenig nachgebessert werden. Ich habe wegen meiner Schwänzereien und anderer Schulverfehlungen ja auch etliche Stunden nachsitzen müssen. Das ergäbe ein ordentliches Plus und meine Bank weist das nicht aus. Ich habe den Experten eine Mail geschickt mit der Bitte, den Erwerbseinkommensgewinn dieser Zusatzstunden mal für mich auszurechnen. Wie gehen etwa gehen die gewaltigen Freizeitverluste für diverse Strafarbeiten in diese Rechnung ein? Da ist manch sonst freier Nachmittag mit Übungen verdorben worden, die mich läutern sollten, etwa mit dieser Schreibarbeit: „Ich darf die Schule nicht schwänzen.“ Hundertmal! In Schönschrift!

Und was ist mit den vielen Stunden, in denen wir rein gar nichts gelernt haben? Etwa weil der Lehrer wieder mal krank war oder in Konferenzen oder es Hitzefrei gab oder der Lehrer uns lieber von seinen noch sehr frischen Kriegserlebnissen an der russischen Front erzählte, als uns in die Geheimnisse der binomischen Formeln einzuweihen.

Das Thema Pandemien war übrigens schon damals ein Grund für nachhaltigen Unterrichtsausfall. Besonders beliebt waren statt Klassenarbeiten Zeitverschlingende Filmvorführungen. Ich erinnere mich noch lebhaft an den NS-Propagandafilm „Robert Koch - der Bekämpfer des Todes“. Emil Jannings, einer der Lieblingsschauspieler von Adolf Hitler, verkörpert in dem Streifen den Virologen und Namensgeber des derzeit so präsenten Robert Koch -Instituts als einen von der NS-Propaganda idealisierten deutschen "Herrenmenschen" an dessen Wesen buchstäblich die Welt genesen sollte.

In der verdunkelten Aula kämpfte unser Klassenlehrer ewig mit den Tücken des ratternden Vorkriegsprojektors und den unhandlichen Zelluloid-Rollen, die alle nasenlang von Hand gewechselt werden mussten. Der ganze Vormittag ging dabei drauf und wir Schüler waren hernach ordentlich stolz, dass ein deutscher Wissenschaftler einen Impfstoff gegen eine ansteckende Viruskrankheit gefunden und in Hamburg Zehntausende vor der Cholera bewahrt hatte. Nun gibt es ja wieder mit Biontec einen deutschen Impfstoff gegen ein Virus und es stimmt versöhnlich, dass das Erfinderehepaar so gar nichts von Herrenmenschentum an sich hat und vom Bundespräsidenten demnächst einen hohen Orden erhält.


Früher war aber nicht alles schlechter. So wurde, anders als heute, bei der Impferei nicht lange gefragt und gefackelt. 1953 wurde ich mitsamt allen meinen Klassenkameraden auf einen Rutsch gegen Pocken geimpft. Das dauerte keine ganze Schulstunde für alle 48 Schüler (nein, nicht Schüler*innen, Jungen und Mädchen gingen damals noch in jeweils eigene Schulen).

Wir standen mit entblößtem Oberarm in einer langen Reihe vor dem Impfarzt. Eine Impfschwester reichte ihm ein kleines mit inaktiven Pockenviren benetztes Messerchen, zwei kleine Schnitte in die Haut und das war’s. Pockenimpfung war übrigens Pflicht. Für jedermann. Impfverweigerer? Fehlanzeige. Wirksamkeit der Maßnahme: 100 Prozent. Die Pocken, eine Pandemie, die über Jahrtausende abermillionen Menschen tötete, ist ausgerottet.

Und heute? Im Stader Impfzentrum, so stand es im Tageblatt, kalkuliert die Impfbürokratie mit einer Stunde pro Corona-Impfling. Nicht wenige im Prinzip impfberechtigte aber qualitätsbewusste Bedenkenträger grämen sich, weil sie nicht dieses sondern jenes Vakzin erhalten sollen. Ich glaube, da geht noch was.


Aber zurück zur Schule. Gewiss geht es dort heute doch gewiss weit besser zu als zu meiner Zeit vor mehr als 60 Jahren. Sonst wäre ja auch die Verzweiflung der Schülerinnen und Schüler nicht nachzuvollziehen, wenn schon wieder ein Tag ohne Penne und Pauker droht. Alles läuft doch mittlerweile perfekt? Die vergangenen sechs Jahrzehnte sind ordentlich genutzt worden? Die Lehrerschaft ist perfekt ausgebildet, immer hoch motiviert und immer gut für den Unterricht vorbereitet, die schwachen Schüler werden gefördert, die starken zusätzlich motiviert, die Unterrichtsinhalte sind auf dem neuesten Stand, die Schulen sind zudem technologisch hochgerüstet und längst mit modernen Geräten im digitalen Zeitalter angekommen? Und die Toiletten sind sauber und stinken nicht. Wer wollte da nicht gerne Schüler sein?


Nun will ich mit der eingangs auf die Schippe genommenen Expertenrechung den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Bildung und Wohlstand nicht allzu sehr ins Lächerliche ziehen. Es ist ja wahr, dass in unserer Gesellschaft hohes Einkommen mit langer Ausbildungszeit überaus deutlich korrelieren. Menschen ohne Hauptschulabschluss stehen Schlange, wenn Jobs mit Mindestlohn angeboten werden. Abiturienten und Akademiker finden sich dagegen ganz oben in der Gehaltstabelle wieder und auch auf den letzten Stufen der Karriereleitern. Corona und Schul-Lokdowns werden daran nichts ändern.


Man kommt ja vom Hölzchen aufs Stöckschen. Daher noch dies: Der Lockdown hat auch unbedingt seine guten Seiten. Seit ewigen Zeiten drängt meine Frau ihren alten weißen Mann, er möge doch endlich dies Bild da anschrauben oder jenes Teil dort reparieren. Das geht aber nun nicht. Mal fehlt ein Haken, mal fehlt ein Werkzeug. Und die Baumärkte sind zu. Und bleiben es noch eine Weile. Corona sei Dank

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